Lilienstaub

Leise und sanft flüsterten die Knochen meinen Namen, lockten mit ihren zarten Rufen, umhüllten mich mit ihren süßen Klängen.
Schnee fiel in weichen Flocken herab, landete dann und wann auf meinen Schuppen, wo er langsam dahinschmolz.
Ich wusste nicht, wie lange ich hier schon lag, unter diesem Felsen, umgeben von einer immer höher werdenden Schneedecke.
Und es kümmerte mich auch nicht, Zeit hatte keine Bedeutung in meinem viel zu lange währenden Leben.
Meinem leeren Leben.
Ich wollte nicht fort von hier, wünschte nur, dass ich langsam gefrieren würde, dass meine Tränen zu hartem Eis und meine Schmerzen betäubt würden.
Vier Kinder und nun noch ein Fünftes.
Leben, das schon verwelkt war, ehe es überhaupt hatte beginnen konnte.
Von dem nicht einmal Knochen blieben.
Das war Todeslieds wahre Strafe.

Lilienstaub

Ich hob meinen Kopf bei seiner Ankunft nicht, spürte nur seiner Wärme nach.
Wärme, die ich nicht gewünscht hatte, der ich aber trotzdem leicht entgegendrängte.
Lange Zeit schwieg ich einfach, wollte nichts sagen, mich nicht rühren, einfach gar nichts tun.
"Ich habe es wieder verloren", sagte ich schließlich tonlos, ohne die Augen von dem Schneetreiben abzuwenden.

Lilienstaub

Bei diesen Worten zuckte ich leicht zusammen, meine Augen wurden glasig.
Himmelsstürmers rücksichtsvolle Worte machten es nur schmerzhafter.
Es war meine Schuld und meine allein.
Weil ich nur an mich gedacht hatte, weil ich einfach alles fortgeworfen hatte ...

Lilienstaub

Plötzlich richteten sich meine Augen auf ihn und blickten ihm forsch entgegen.
"Bin ich schön?", fragte ich mit klarer Stimme.

Lilienstaub

"Gut", sagte ich entschlossen und machte eine einladende Geste.
"Dann zeig es mir."

Lilienstaub

Mit einer fließenden Bewegung legte ich mich auf den Rücken, legte sanft meine Tatze an seine Wange.
Auffordernd nickte ich.

Lilienstaub

Leise seufzte ich auf und schmiegte mich an ihn.
Ich wollte Himmelsstürmer nicht verlieren, er war nicht mehr länger nichts weiter als meine Wärmequelle im Winter.
Er war mir nah, er war mir wichtig, er war mein Halt.
Deshalb wollte ich ihn nicht verlieren, um keinen Preis.
Aber meine Schönheit war alles, was mir blieb.
Alles, was ich ihm geben konnte.